Man
stelle sich vor, Carmens Zigarettenfabrik hätte nicht im andalusischen
Sevilla gestanden, sondern ein paar Tausend Kilometer ostwärts,
vielleicht am Rande der Roma-Viertel von Skopje, Prilep oder Pristina,
also in Mazedonien oder Kosovo - im ehemaligen Jugoslawien.
Goran
Bregovic, Rockmusiker, Filmmusik-Komponist an der Seite des bosnischen
Regisseurs Emir Kusturica (u.a. "Time of the Gipsies") und
Bandleader ("The Wedding and Funeral Band") hat diesen Gedanken
weitergesponnen und Georges Bizets berühmte Oper neu erfunden.
Nur
noch wenig erinnert an das Original. "Carmen" schreibt sich
bei ihm mit scharfem "K", und mit ebenso hartem Balkan-Akzent
singen die Akteure, die erhabene Atmosphäre des symphonischen
Orchesters wird ersetzt durch eine scheppernde Gypsy-Brass-Band.
Bregovics
Idee, das von Bizet im andalusischen Gitano'-Milieu angesiedelte
Sujet von den romantischen (und letztlich diskriminierenden) Klischees
zu befreien, ist dabei nicht wirklich neu. Schon vor einigen Jahren
reussierte das Roma-Theaterensemble "Pralipe" mit einer
eigenen Adaption der Oper. Sowohl die Theatergruppe als auch Bregovic
verfolgen dabei die Idee, die Roma nicht länger als Objekte bzw.
exotische Kulisse einer imaginären Handlung zu missbrauchen,
sondern sie zu Handlungsträgern zu machen: in ihrer Sprache,
mit ihrer Musik, in ihrer eigenen Tradition. In Bregovics Worten:
"eine Mischung aus Jahrmarkttheater und Oper".
Dass das Ergebnis sich sowohl zeitlich, als auch räumlich und
kulturell von Bizets Vorlage weit entfernt, ist dabei selbstverständlich
- und hochspannend zu erleben.
Selbst
das Ende wird noch auf den Kopf gestellt: Statt der dramatischen Erdolchung
Carmens durch den ihr verfallenen Don José gibt es ein gemeinsames
Hochzeitsfrühstück, bei dem sich sämtliche Protagonisten
bester Gesundheit erfreuen.
©
Michael Frost, 14.07.2007