Damit war nun wirklich nicht zu rechnen: Nachdem Kristin Asbjørnsen mit ihrem Debütalbum "Wayfaring stranger" (2007) so etwas wie den "Norvegian Gospel" auf den Weg brachte, legt sie jetzt ein Album mit deutlich anderen Nuancen nach, kaum mehr mit dem Vorgänger zu vergleichen - und dennoch, soviel sei vorweg genommen, nicht minder beeindruckend und aufregend.
"The night shines like the day" wurde ausschließlich von ihr selbst geschrieben, und neben gelegentlichen Erinnerungen an den Gospel-Sound von "Wayfaring stranger" hört man darauf vor allem ihre Hingabe für Pop, Alternative Rock, Soul, Jazz und Blues, sehr viel Blues sogar. Ihre Stimme ist dabei erstaunlich wandlungsfähig - mal hell und zärtlich, mal fröhlich, dann dunkel und melancholisch, rau und verletzlich.
Es scheint, als habe Kristin Asbjørnsen versucht, ihre gesamte musikalische Erfahrung - die weit über die beiden Soloalben hinausreicht - für "The night shines like the day" zusammen zu bingen. Und im Gegensatz zu "Wayfaring stranger", für das sie ausschließlich Lieder der amerikanischen Gospel-Sängerin Ruth Reese interpretierte, reicht ihr Ausdruck heute von Tori Amos und P.J. Harvey bis Billie Holiday, von Agnetha Fältskog über Emiliana Torrini bis Diana Krall und Melody Gardot.
Dort, wo ihre Liebe zum Gospel noch durchschimmert ("If this is the ending", "Snowflake"), verknüpft sie seinen Rhythmus mit spielerischen, bisweilen drängenden Piano-Läufen (genial: Tord Gustavson, vor allem in "Afloat"), kontrastiert sie sanfte Balladen-Passagen mit spröder lap steel-Gitarre oder afrikanischer Konting. Obwohl Kristin Asbjørnsen - mit Ausnahme einiger Percussions - komplett auf ein Schlagzeug verzichtet, ist "The night shines like the day" ein ungemein rhythmisches Album - selbst die langsamen, kristallklaren Balladen ("Don't hide your face from me") haben einen spürbaren Pulsschlag.
Dreizehn Lieder mit unterschiedlichen Klangfärbungen enthält dieses der Gegenwart entrückte Album, das sich nicht auf ein bestimmtes Genre festlegen lässt, ohne sich jedoch gezielt abzugrenzen oder zu distanzieren - Kristin Asbjørnsen und ihre handverlesenen Instrumentalisten, zu denen übrigens auch Jazz-Trompeter Nils Petter Molvær mit einem exquistiven Auftritt in "Moment" gehört, heben sich wohltuend und unverwechselbar aus dem Überangebot aktueller Jazzpop-Interpretinnen ab, auch, weil sie bei aller Spielfreude und Eingängigkeit ihre Neugier und ihre Lust am Experiment nicht aufgeben wollen, sich weder aufdrängen noch einschmeicheln, auf jede Effekthascherei verzichten, sondern allein durch ihre hohe Musikalität überzeugen. Am Ende behält die Sängerin recht: Ihr Album erleuchtet die Nacht - taghell.
Videolink: Kristin Asbjørnsen "Walk around" / youtube
Der Live-Mitschnitt geht weit über die Albumversion hinaus. Asbjørnsen spannt darin einen Bogen zwischen Vokalakrobatik, die an die Gesäng der Sami erinnert, und Gospelpop.