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Keine falsche
Sentimentalität

von Hans Happel


"Jimmi Dorsey gehörte zu denjenigen, die eine Geschichte erzählen können", sagte Lester Young über den Klarinettisten und BigBand-Leader, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. Eine Geschichte erzählen zu können, und zwar so, dass man sie hören möchte, ist vielleicht das schönste Kompliment, das man der amerikanischen Pianistin Lynne Arriale machen kann.

"Arise" heißt das neue Album der spätestens seit dem Vorgänger-Album "Inspiration" weltweit hochgelobten Pianistin. Schon die titelgebende Eigenkomposition erzählt Geschichte und Geschichten. "For the heroes" sollte das Stück zunächst heißen. Die in New York lebende Musikerin schrieb es als Erinnerung an die Opfer des Terror-Anschlags vom 11. September, aber sie nahm den ursprünglichen Titel zurück und ersetzte ihn durch "Arise".

Damit nimmt sie das große Pathos zurück und verweist auf ein Stilelement ihrer musikalischen Erzählungen hin: Alle neun Stücke dieses Albums, darunter vier Eigenkompositionen, kommen ohne jedes Pathos aus, und sogar in "Arise", einer besonders empfindsamen und durchaus verletzlichen "mournful melody", gibt es keine falsche Sentimentalität.

Lynne Arriale spielt die zarte, schlichte und warme Melodie mit einem Anschlag, der beiläufig, trocken und fast zögernd daherkommt, der eloquent ist, aber kein weiches Plaudern und keinen überflüssigen Ton zuläßt. Mit diesem diskreten Tonfall beglaubigt sie ihre Absicht, vom "everyday heroism" zu erzählen, als einer "manifestation of our most profound humanity". Das ziehlt - wie sie im Booklet schreibt - auf Empathie für die Opfer und ihre Familien, die sie ebenso unaufdribglich mitschwingen läßt wie die ihre eigenen Fragen ("where do we go from here?").

Es ist, wie Brecht gesagt hat, das Einfache, das schwer zu machen ist. "The Fallen" war das erste Stück, das Lynne Arriale nach dem 11. September geschrieben hat. Sie versucht, ihre Gefühle in einer ganz kleinen simple tune zu bannen, deren Traurigkeit so leise und so vorsichtig bleibt, dass die schlichte Melodie wie ein Halt wirkt, der vor dem Zerfließen und Zerfallen bewahrt.

Die Pianistin, die stets in der Trio-Formation spielt, nennt ihren musikalischen Ausdruck "most heartful" und sie erzählt, dass sie während des Komponierens die Melodie mitsinge, "um eine starke Bindung ans Gefühl" zu erzielen. Aber wer dieser auf dem Cover der aktuellen CD als hochattraktive Lady porträtierten Musikerin in die schönen Augen sieht, glaubt auch den Vamp zu erkennen.

Um im Bild zu bleiben: Man spürt in ihrer Musik den Biss, den energischen, direkten Zugriff, der in ihrem von der klassischen Ausbildung geprägten Pianospiel liegt. Viele ihrer Stücke leben von einem durchgehend swingenden Unterboden, den ihre beiden langjährigen Sideman Jay Anderson (Bass) und Steve Davis (drums) ebenso gelassen wie elegant dahinpinseln, während Lynne Arriale mit rauer, körniger Improvisation den Rhythmus aufbricht, ohne den Fluß der Musik zu stören.

Wenn sie als "eine der geistreichsten Swingladies" gefeiert wird, gerät sie damit jedoch in eine Schublade, die ihr nicht angemessen ist. Sie bewegt sich zwischen Genre-Grenzen - in "Inspiration" zwischen Bernstein, Lennon-McCartney, Monk und Keith Jarrett, in "Arise" zwischen Blockbustern der Pop-Musik wie "Lean on me", "Change the world" und den eigenen empfindsamen Liedern. Sie bevorzugt das liedhafte Material, das so einfach und klar wie möglich ist, und sie imprägniert mit ihrem charakteristischem Zugriff abgenudelte und fast verblichene Pop-Stücke derartig, dass etwa Bill Withers Soulklassiker "Lean on me" zu neuem Leben erweckt wird.

Dabei hält sie sich eng an die ursprüngliche Melodie, sie dekonstruiert nicht - wie etwa das Jazz-Trio "The Bad Plus" -, sondern entwickelt ihren eigenen Ton von innen her. Die Leichtigkeit ihres Spiels deckt sich mit der Lässigkeit, mit der Bass und Drums den schweren Gospelklang des Stücks aufbrechen.

Das Mittlere der neun Stücke trägt den Titel "Esperanza". Die Eigenkomposition ist programmatisch in Titel und in den musikalischen Farben, die von aufkeimender Lebensfreude künden, mit kubanisch inspirierten Rhythmen, einem gediegenen Schlagzeugsolo und einem Pianoton, der in Fröhlichkeit badet, ohne banal zu werden. Auch das gehört zu den vielen kleinen Geschichten, die das Lynne Arriale Trio erzählt: Sie kennen Schmerz und Trauer so gut wie Lebenslust, Tanz und Traum.

© Hans Happel, 06. März 2004

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