Laurie
Anderson gehört zu den mehr als 4 000 amerikanischen
Künstlern, Schauspielern, Schriftstellern und Wissenschaftlern,
die sich ein Jahr nach dem 11. September in der New York Times
zu Wort gemeldet und mit einer ganzseitigen Anzeige ihren
Protest gegen die Kriegspläne der Bush-Regierung ausgedrückt
haben.
Die
55-jährige Performance-Künstlerin wurde in der Berichterstattung
- neben Robert Altman, Noam Chomsky oder Pete Seeger - sicherlich
nicht nur deshalb an erster Stelle genannt, weil ihr Name
alphabetisch ganz oben steht. "Es soll niemand sagen,
dass die Menschen in den USA nichts getan haben, als ihre
Regierung Krieg ohne Grenzen erklärte", schreiben
die Unterzeichner, die nicht nur der "Kriegsmaschinerie
widerstehen" wollen, sondern auch den Verlust von Bürgerrechten
in den USA beklagen.
Im Zusammenhang mit diesem Aufruf wird besonders deutlich,
dass Laurie Andersons neue CD den Charakter eines Manifests
hat. Der Titel "Live at Town Hall, New York City September
19-20, 2001" spricht für sich. Auch wenn die Künstlerin,
"Paganinis zart angepunkte Schwester mit der Elektrogeige"
(Pop-Lexikon), keine politische Botschaft verkündet:
Diese herausragende Konzertaufnahme ist zugleich ein einzigartiges
Dokument.
Es ist kaum möglich, sich - im Wissen um das, was wenige
Tage vor dem Auftritt geschehen ist - der besonderen Atmosphäre,
der Spannung und Nachdenklichkeit zu entziehen, die in diesen
Aufnahmen hörbar wird. Laurie Anderson, die erstmals
mit einer Begleitband unterwegs war, spricht in ihrer Begrüßung
von der Chance, die "Ereignisse der letzten Tage wirklich
zu verstehen" und mit Mut und Mitleid (Courage and Compassion)
zu reagieren.
Ihre leise und mahnende Ansprache nimmt den Charakter des
gesamten Albums vorweg, in dem die dunklen, melancholischen
Töne überwiegen, die eigenartig gefroren wirken
- wie das kühne, minimalistische Geigensolo mit seinen
fast kratzig-gebrochenen Klängen, das den ersten Song
"Statue of Liberty" einleitet. "Freiheit ist
ein seltenes Gut", heißt es da, "und leicht
zu verlieren."
Laurie Anderson verbindet die Songs ihrer zuletzt erschienenen
CD "Life on a string" mit älteren Liedern,
die alle in ein klares, einheitliches Klanggewand getaucht
sind. Skuli Sverrisson (Bass), Jim Black (Drums, Percussion)
und Peter Scherer (Keyboards) unterlegen und begleiten Andersons
dunklen Gesang mit Bass und Drums, mit Streicherarrangements,
elektronischen Effekten und vielfältigen Percussion-Klängen.
Die Farben dieser Musik sind düster-elegisch und transparent
zugleich. Anderson flüstert, raunt, singt und erzählt
Alltagsgeschichten, in denen die Tristesse immer ironisch
gebrochen ist. Sie beschwört fremde und schwarze Engel,
sie überblendet amerikanische Mythen mit Action-Helden
wie John Wayne, Bruce Willis und Brad Pitt ("Wildebeests"),
sie erfindet Tierparabeln um männliche und weibliche
Spinnen ("Animals") oder erzählt von Pariser
Müttern und ihren Strategien im Straßenverkehr
("Beginning French").
Die geheimnisvollen Bilder und der meditative Charakter der
Musik haben etwas tranceartiges, verlieren sich aber nicht
in plätschernder Stimmungsmalerei, die Musiker stehen
stets unter Hochspannung. Wenn Anderson am Ende der ersten
CD sagt, "wir wissen nicht, was passiert, wir werden
die Augen weit geöffnet haben müssen", dann
ist dieser Gedanke bis in die Poren der Musik eingedrungen.
Die
letzten Songs der zweiten CD sind zu einer mehrsätzigen
Großform zusammengefügt, in der die brilliante
Begleitband alle Register zieht, bis die theatralische Sehnsuchtsarie
"Love among the sailors" den Bogen beendet und nebenbei
zeigt, dass Celine Dion nur die sentimentale jüngere
Schwester Laurie Andersons ist.
Ein
Höhepunkt des Albums ist der 20 Jahre alte Pophit "O
Superman", der hier mit einem aufregend monoton gehaltenen
Keyboard-Stakkato unterlegt ist. Laurie Anderson schreibt
dazu im Begleittext, dass sie - wie viele andere Künstler
- im letzten Herbst das Gefühl hatte, ihre früheren
Texte hätten eine neue Bedeutung bekommen. Sie zitiert
aus "O Superman" die Zeilen "Here come the
planes. They´re American planes. Made in America."
Sie
weist darauf hin, dass der Song 1980 während der Iran-Contra-Affäre
entstanden sei, die heute als Teil eines länger andauernden
Konflikts zwischen der Welt des Islam und des Westens gesehen
werden könne. Nein, ihr Song sei nicht "prophetic"
gewesen. "It was simply that this war was still going
on. Loss, betrayal, death, technology, anger and angels, these
have often been the things I have written about. At Town Hall
in New York I was singing for once about the absolute present."
Laurie
Andersons Live at Town Hall ist ein anrührendes Dokument
und ein künstlerisches Ereignis.