Es
klingt wie der Gruß aus den Sommerferien: "Welcome to sunny
Florida". Eine Postkarte mit gleich lautender Aufschrift ziert
auch das neue Album von Tori Amos. Es ist ihre multimediale Ansichtskarte,
entstanden beim Abschlusskonzert ihrer fast einjährigen Tour durch
die Welt im allgemeinen und die USA im besonderen: "Scarlet's walk",
Scarlets Reise durch das gegenwärtige Amerika.
Scarlet,
Toris Alter Ego, beendet ihre Reise dort, wo es ihr immer am besten
gefiel, erzählt sie - in Florida. Doch noch während des
Soundchecks ist von Sonne keine Spur; es regnet in Strömen. Vielleicht
ist der Regen eine Allegorie? Dichte Wolken als Ausdruck des amerikanischen
Gemütszustandes? Tori Amos ist keine Frau, die dunkle Flecken
übertünchen würde. Sie ist eine Zeremonienmeisterin
der Gegenwart, der Abgründe und Lebenslügen, schonungslos
gegenüber sich selbst, ihren Nächsten, in der Auseinandersetzung
zwischen Männern und Frauen.
"Welcome
in sunny Florida" ist nach "To Venus and back" ihr
zweites Live-Album, jedoch die erste Veröffentlichung auf DVD.
Und so kommt man erstmals auch in den optischen Genuss ihres Auftritts.
Man sieht sie, einen Flügel zu ihrer Linken, Wurlitzer und Rhodes
zur Rechten, übereinander. Drei gewaltige Klaviaturen, und hätte
sie drei Hände, sie würde sie gleichzeitig spielen. Zeitweise
spielt sie immerhin auf zwei Instrumenten, die Beine fast im Spagat,
um die Fußpedale zu erreichen, und sie singt immer noch, konzentriert,
einfühlsam, einnehmend, eindringlich - Extraklasse.
Über
weite Strecken füllt sie die Bühne allein. Weitere Musiker,
sofern überhaupt vorhanden, geraten kaum ins Bild. Ein Drummer
müsste wohl anwesend sein, ein Bassist auch, doch nirgendwo in
der aktuellen Popmusik steht das Piano so sehr im Vordergrund wie
bei den Auftritten von Tori Amos.
Sie
scheint dort festgewachsen zu sein, auf dem Hocker zwischen den aufgetürmten
Tastaturen, einmal kommt sogar die Maskenbildnerin zu ihr auf die
Bühne, tupft und trocknet, richtet die roten Haare - doch Tori
singt einfach weiter, den Blick fest ins Publikum gerichtet, als bemerkte
sie ihre Mitarbeiterin überhaupt nicht. Bei solch intensiven
Momenten kann auch der Regen nichts ausrichten - er perlt einfach
ab.
Das
Publikum ist hingerissen, wenn Tori Amos sich, den Kopf tief gebeugt,
in die Tasten gräbt und die Spannung mit einem Herz zerreißenden
Intro weiter anheizt. Viele Worte macht sie nicht, sie singt einfach
los, mit unglaublich präsenter Stimme, magisch, perfekt - es
gibt keine schwachen Momente.
Man
erkennt den Ursprung ihres Erfolgs: Beharrlichkeit, Bessenheit, aber
ebenso Professionalität und Ehrgeiz, man hört die Verbindungen
zu ihrer künstlerischen Verwandtschaft: Kate Bush, The Cure,
Janis Joplin, Billie Holiday.
Die
DVD-Macher haben kleine Einspieler zwischen die Lieder montiert, in
denen Tori Amos über ihre Karriere spricht. Sie spiele Klavier,
seit sie 2 1/2 Jahre war, sagt sie, und sie habe sich nie vorgestellt,
wie hart das Komponieren sein könne. Man schreibe so viel und
zum Schluss bleibe so wenig davon übrig, was nutzbar sei, bedauert
sie - doch in ihrem Fall dürfte der Ausschuss vergleichsweise
gering sein. Denn wie schon "To Venus and back" liegt auch
diesem Live-Album wieder eine zweite CD mit zusätzlichen, neuen
Titeln bei. "Scarlet's hidden tracks" setzt die Reise fort,
die Tori mit ihrem aktuellen Studioalbum "Scarlet's walk"
begann.
Durch
ihre Urlaubskarte aus dem sonnigen Florida erfährt man also einiges
über ihre faszinierende, komplexe Persönlichkeit, lernt
sie nochmals mehr schätzen - und kann, ganz nebenbei, einige
ihrer schönsten Kompositionen nochmals neu genießen.
©
Michael Frost, 22. Mai 2004