Zum ersten Mal seit Jahren hat Tori Amos ein neues Album nicht randvoll mit neuen Songs gepackt, mit denen sie sonst nicht nur die Speicherkapazität des Mediums CD, sondern auch ihrer Zuhörer zu strapazieren pflegte, andererseits liegt die Veröffentlichung ihres letzten Albums "Abnormally attracted to sin" auch gerade erst ein halbes Jahr zurück.
"Midwinter graces" gibt sich deutlich zugänglicher, entspannter und spielerischer als dieser Vorgänger. Schon das Cover, in dem die Sängerin sich in jahreszeitlich passender Engelspose präsentiert, als wolle sie nun persönlich den Weltfrieden verkünden, gibt sich ebenso freudig wie feierlich. "Midwinter grace" führt Weihnachten nicht im Titel, sondern folgt der Tradition der "Seasonal greetings"-Postkarten, die man im Dezember von amerikanischen Verwandten erhält, und dennoch wird es spätestens durch die Auswahl der Songs ein sehr auf das Fest bezogenes, und immer wieder auch sehr traditionelles, europäisches Album, auf dem sie eigene Kompositionen mit alten, auch sehr religiösen Weihnachtsliedern mischt (z.B. "Emmanuel" und "Holly, Ivy and Rose" in Anlehnung an "Es ist ein Ros' entsprungen").
Natürlich kommt auch Tori Amos' Weihnachtsalbum nicht ohne klassische Instrumentierungen aus. Doch anders als die vielen schwülstigen Veröffentlichungen dieser Tage verpasst sie ihrem Meer aus Geigen etwa in "Star of Wonder" einen gekonnt arabischen Einschlag, und ähnlich expressiv arrangiert sie auch an sich feierliche Balladen wie "A silent night with you", die sich dem weltberühmten Original in Zitatform nähern, oder das Medley "Candle: Coventry Carol" mit Posaunenchor, Laute und Flöte.
Es gibt jedoch auch Ausrutscher wie "Harps of gold", ein Song von erschreckend banaler Struktur, die in ihrem Repertoire bislang nie zu finden war. Doch das anschließende "Snow angel", eine melancholische Ballade mit elegischem Pianospiel und klassischen Geigenläufen, hat versöhnlichen Charakter. Vielleicht hätte "Midwinter graces" mehr Songs wie "Pink and glitter" vertragen. Tori Amos lässt hier eine Jazz-Bigband aufspielen und zeigt, dass sie auch als Swing-Interpretin herausragend ist.
So verzichtet Tori Amos lediglich auf das Ausschöpfen der Kapazitäten der CD, nicht jedoch auf das ihrer eigenen Vielseitigkeit, die nach wie vor Perlen von Liedern wie "Winter's Carol" hervorbringt, dem Stück, das mit seiner Mischung aus Romantik auf aufgewühlter Dramatik den stärksten Eindruck hinterlässt. Selten kam Tori Amos ihrem Idol Kate Bush näher als hier.
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Michael Frost, 06.12.2009