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Vom Untergang grandioser Songideen


Stark. Der Einstieg in Tori Amos' zehntes Studioalbum ist sogar sehr stark. Der stoische, äußerst reduzierte Rhythmus von "Give" erinnert an die düsterste Phase von The Cure ("Faith"), die Scratches zum verlangsamten Drumloop verweisen direkt auf Portishead, der exaltierte Gesang erinnert - einmal mehr - an Kate Bush, und der volle Klang des Bösendorfer Flügels - das wiederum ist unverkennbar sie selbst: Tori Amos, eine der großartigsten Songwriterinnen der letzten Jahre.

Einmal mehr hat sie ihr Album voll bepackt. Ganze siebzehn Songs enthält "Abnormally attracted to sin", angefüllt mit mehr oder weniger rätselhaften Metaphern, ihrer ureigenen Lyrik, die wie stets ungemein viel Platz für Interpretationen lässt. "Welcome to my world, you have to bring your own sun", heißt es in "Welcome to England", einem druckvollen, recht Tori-typischen Song, den sie als Single-Auskopplung vorgesehen hat.

Insgesamt würde ihr aktuelles Material für zwei Alben reichen - oder aber sollte es, wie manche Rezensenten meinen, auf EP-Format reduziert werden? Der Vorwurf der Überfüllung ist dabei nicht neu. Spätestens seit ihrem Meisterwerk "Boys for Pele" neigt Tori Amos zur quantitativen Opulenz, allerdings nicht ohne Sinn: In "Scarlet's Walk" wagte sie eine Gegenwartsbeschreibung der USA in Form eines fiktiven Reisetagebuchs. Mit "The beekeeper" lotete sie kaleidoskopartig und noch recht chaotisch die komplette Bandbreite ihrer musikalischen Möglichkeiten zwischen Pianoballade, Folk, Alternative Pop, Kammermusik und Rock aus, und in "American Doll Posse" interpretierte sie diese musikalischen Genres als weibliche Charaktere, deren Rollen (insgesamt fünf) sie selber einnahm.

"Abnormally attracted to sin" verfügt über diesen roten Faden nicht, und das erweist sich im Verlauf des Albums als Problem. Denn Tori Amos kann das hohe musikalische Niveau der ersten Songs, insbesondere des Openers, nicht halten, sondern verliert sich zwischen den Tasten ihres Flügels, dem hohen Anspruch an den eigenen Inhalt: "Ich wollte gründlich erforschen, wie die Angst vor Verzweiflung unser Leben kontrolliert, ich wollte mir anschauen, wie Macht funktioniert, wie wir denken, und wie man es schaffen kann, wieder vollkommen unabhängig zu denken und aufzudecken, woran man als spirituelles, sexuelles Wesen in dieser Welt noch glauben kann."

Und so muss man dem Rezensenten recht geben, der feststellte, dass Tori Amos "erst am Ende, mit dem überraschenden, sich langsam zu Opulenz steigernden Schluss-Stück 'Lady in Blue', das theatralische, gesanglich anspruchsvolle 'Give' vom Anfang" verknüpfe (A. Borcholte auf spiegel online). Dass in der Masse der wenig auffälligen Stücke grandiose Songideen wie "That guy" nahezu untergehen, unterstützt diese These noch, und so wäre es in diesem Falle wirklich besser gewesen, den Umfang des Albums deutlich zu reduzieren (es müsste ja nicht gleich auf EP-Format sein) und statt dessen den individuellen Charakter der verbleibenden Stücke prägnanter herauszuarbeiten.

 

© Michael Frost, 16.05.2009


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