"Reggae
ist eine Musik, die im Ghetto entstanden ist. Und zwar aus
dem Bedürfnis heraus, dem Ärger, der Wut und dem
Haß Luft zu machen. Am Anfang war dies eine auschließlich
lokale Angelegenheit. Heute kennst du Reggae fast in der ganzen
Welt, und viele Menschen wissen durch diese Musik von den
Problemen in Jamaika." Das sagt 1980 Dermot Hussey, ein
Kenner der Szene in Jamaika, den Udo Vieth und Michael Zimmermann
in ihrem 1981 erschienenen, ersten umfassenden Report über
Reggae und seine historisch-sozialen Wurzeln zitieren ("Reggae
- Musiker, Rastas und Jamaika").
In
den 60er Jahren brachten tausende von Einwanderern den Sound
mit nach London, wo er lange Zeit als nicht gesellschaftsfähig
galt, und auch der westindische Welthit der unbekannten Lilli
Small "My Boy Lollipop" änderte wenig daran.
Erst Ende der 70-er Jahre wurde die Musik der mittellosen
schwarzen und mulattischen Stadtbevölkerung Jamaikas
in Europa populär. Die längst kommerzialiserte Rockmusik
hatte den neuen politischen Jugend- und Alternativbewegungen
nicht mehr viel zu bieten, und aus dem Reggae schien eine
Graswurzel-Revolution so authentisch herüber zu klingen
wie es sie seit den frühen Zeiten der Beatles und Stones
nicht mehr gegeben hatte.
Reggae
und seine schnelleren Brüder Ska und Rocksteady sind
ein wildes Gemisch aus Calypso, Rhythm&Blues, Boogie und
Gospel, und all dies ist jetzt wunderbar nachzuhören
auf einer ungewöhnlichen Jazz-Aufnahme, mit der zwei
Altmeister und Großväter dieser Musik zu ihren
Wurzeln zurückkehren.
Der
Gitarrist Ernest Ranglin hat schon Lilli Small begleitet,
später spielte er für Jimmy Cliff, Bob Marley, Bunny
Wailer, aber auch etliche Jazz-Größen. Der Pianist
Monty Alexander, seit Jahrzehnten einer der großen unter
den Jazz-Pianisten, hatte als unbekannter Sessionmusiker im
heimatlichen Jamaika angefangen.
Bei
den Aufnahmen für Studio One in Kingston/Jamaika haben
sich die beiden kennen gelernt und für den Radio-DJ aus
Kingston waren sie damals "der größte Gitarrist"
und "der ausgebuffteste Keyboarder". Wenn sie Jahrzehnte
später an diese Zeit erinnern, dann nicht aus abgeklärter
Altersnostalgie, sondern um mit ungewöhnlichen Mitteln
etwas von der Kraft und Ursprünglichkeit dieser Musik,
die ebenfalls längst kommerzialisiert wurde, zurückzuholen.
"Rocksteady"
heißt das Album, auf dessen Cover sich die beiden Alten
wie zwei junge Westernhelden ein Showdown liefern - mit Gitarre
und Melodika im Anschlag. Aber was sie hier mit 12 Klassikern
des Reggae bieten, ist das Gegenteil von Konkurrenzkampf.
Die Westernhelden in High-Noon-Pose gehörten zu den Fieberträumen
ihrer Jugend. Monty Alexanders "perlend swingendes Klavierspiel,
das Vitalität und Subtilität wie selbstverständlich
vereinigt", ist längst lexikalisch verortet.
In
seinen Trios hat er sich oft auf die Musik seiner karibischen
Heimat bezogen. Zu seinem 60. Geburtstag - am 6. Juni - kehrt
er musikalisch ganz in die Heimat zurück. Er spielt Songs
von Desmond Dekker (ISRAELITES), The Skatellites (CONFUCIUS),
Burning Spear (MARCUS GARVEY), The Maytals (PRESSURE DROP).
Nicht zufällig steht am Ende Bob Marleys REDEMPTION SONG,
jene späte Freiheitshymne, in die der Krebstod des "größten
musikalischen Helden Jamaikas" (Monty Alexander) schon
eingeschrieben war.
"At
the end of all this fun this is something serious" heißt
es im Booklet-Kommentar. Die beiden Musiker spielen tatsächlich
unendlich entspannt: Geschmeidig reichen sie sich die schlichten
Melodiebögen zu, brechen sie mit virtuos improvisierten
Läufen auf, ohne den Songs jemals das Liedhafte zu nehmen.
Ihre Musik bleibt eingebettet in die klassischen klaren Reggae-
und Ska-Rhythmen mit ihren typischen "afterbeats"
(Nachschlägen).
Auch
ohne Text und Stimme wird die Würze, die Kraft dieser
Musik lebendig. Dabei helfen exzellente Musiker an Drums (Quentin
Baxter, Courtney Panton) und Background-Instrumenten (Junior
Jazz, rhythm guitar, Hassan Shakar, acoustic bass, Gary Mayone,
keyboards). Special-Guest ist Toots Hibbert, eine Ikone der
Reggae-Musik. Hibberts war Lead-Sänger der Maytals, die
mit PRESSURE DROP Ende der 60-er Jahre eins ihrer Meisterwerke
geschaffen hatten. Hier singt er diesen Song noch einmal,
und gibt ihm die Kraft eines wahrhaft mitreißenden Gospels.
"Reggae
heißt einfach: Coming from the people" sagt Toots
Hibbard in Udo Vieths Reggae-Buch. "Rocksteady"
ist im besten Sinn handgemachte Musik: Der Mann am Piano (und
an der Melodika) und der E-Gitarrist spielen mit zarter Durchsichtigkeit.
Sie wollen nicht Reggae dem Jazz einverleiben, sie nutzen
ihn nicht als Improvisationsmaterial, sondern machen mit den
Mitteln des Jazz die Eigenheiten dieser Musik hörbar.
Der REDEMPTION-SONG, kaum denkbar ohne die Stimme von Bob
Marley, wird mit einer derartigen Innigkeit gespielt, dass
er in dieser Version neben dem unerreichbaren Original bestehen
kann. "Rocksteady" ist eine großartige Platte,
nicht nur für Reggae-Fans unbedingt empfehlenswert.
©
Hans Happel, Mai 2004
Wer das Monty Alexander Trio live hören will, muß
im Sommer London besuchen. Dort tritt Monty Alexander vom
2. - 14. August im legendären Ronnie Scott´s auf.