Wir wissen nicht, ob Rabih Abou-Khalil an Portugals maurische Vergangenheit dachte - "Algarve" etwa ist eine Abwandlung aus dem arabischen Wort
"Al'Gharb" ("Der Westen") -, als er auf Einladung des Direktors des Nationaltheaters von Porto begann, portugiesische Lyrik zu vertonen.
Das Ergebnis jedenfalls ist eine betörende, Atem beraubende musikalische Reise in die gemeinsame Vergangenheit Arabiens und Iberiens, in der abend- und morgenländische Harmonien miteinander verschmelzen, arabisches Lied und portugiesischer Fado einen gemeinsamen, sehnsüchtigen Ausdruck finden.
"Der Fado liebt mich, also liebe ich ihn // und wenn die Gitarre eine Frau ist // bin ich ihr Geliebter", schrieb Mário Raínho für den Auftakt dieses besonderen Projekts. Raínho gehört zu Portugals profiliertesten Fado-Dichtern, seine Verse werden von den bedeutendsten Interpreten des Lands interpretiert, darunter Mariza, Ana Moura - und nun der erst 26-jährige Ricardo Ribeiro aus Lissabon, den Abou-Khalil während eines Konzerts entdeckte. "Ricardo fiel mir sofort auf", sagt Abou-Khalil, "er hörte den Instrumentalisten zu, reagierte auf sie und integrierte sich in die Gruppe."
Dennoch: Was Ricardo Ribeiro mit seinem Fado-Ensemble zu leisten imstande war, lässt sich nicht automatisch auf die schwierigen, oft gegenläufigen Harmonien der Tonkunst anwenden, die Rabih Abou-Khalil mit seinen kongenialen Begleitern mit unglaublicher Leichtigkeit beherrscht: Luciano Biondini (Akkordeon), Michel Godard (Tuba, Serpent, Bass), Jarrod Cagwin (Schlagzeug) - ein multikulturelles Mini-Orchester aus Italien, Frankreich, den USA und Libanon, der Heimat Abou-Khalils, nun verstärkt um eine portugiesische Stimme.
Abou Khalil: "Ricardo Ribeiro war der einzig Neue in der Band. Er fügte sich nahtlos in die alteingesessene Band ein. Ich hatte das Gefühl: Wir singen gemeinsam, sind ein Klang. Jeder hört dem anderen zu." Fast wähnt man sich bei einer Jazz-Session, in der jeder der Beteiligten größtmöglichen Spielraum genießt. Jeder der Beteiligten ist ein Individualist mit ausgeprägtem Charakter. Akkordeon, Oud, Tuba, Schlagzeug, Stimme: Sie alle spielen einzeln eine technisch wie künstlerisch brilliante Hauptrolle - doch indem sie ihr ganzes Können in den Dienst des gemeinsamen Projektes werfen, wachsen sie über sich hinaus.
Das Ergebnis dieses unvergleichlichen Projekts vereint musikalischen und lyrischen Ausdruck. Der Fado, der auf diesem Album physisch gar nicht greifbar wird, während man seine Seele jedoch in jeder Note spürt, liebt Musiker wie Abou-Khalil und Sänger wie Ricardo Ribeiro. So sehr, dass die Buchstaben ihrer Namen als Akrostichon die Verse eines ganz eigenen Fados bilden, den Tiago Torres da Silva für sie schrieb: "Bejos ateus". An dieser Stelle sind die einfühlsamen Textübersetzungen ins Englische und Französische, die das aufwändig gestaltete Booklet enthält, besonders positiv hervorzuheben. Vielleicht wurden sie auf besonderen Wunsch von Rabih Abou-Khalil angefertigt: Vor Beginn des Projektes nämlich, so sagt er, habe er kein einziges Wort Portugiesisch verstanden. Umso enger wurde jedoch die seelische Verwandtschaft, und umso größer die gegenseitige Liebe.
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Michael Frost, 14.06.2008